Hanne Loreck, "Das Virtuelle im Physischen"
über
Katrin Mayer, Eske Schlüters
time to sync or swim
Kunsthalle Lingen 2016
time-to-sync-or-swim
.
erschienen in:
Texte zur Kunst, Dezember 2016
.
.
Facebook kennt 71 Gender-Optionen. Das ist zweifelsohne eine Menge, die allerdings weder über die biopolitisch-bürokratische Kontrolle von Geschlecht generell hinwegzutäuschen vermag, noch über die alltägliche Dominanz des Zweigeschlechtermodells. Orientiert am Potenzial des Imaginären in der digitalen Fassung von Körperlichkeit machen Katrin Mayer und Eske Schlüters in ihrer Ausstellung time to sync or swim in der Kunsthalle Lingen eine Alternative zum normativen Geschlechterregime erlebbar. Und das kann nicht anders gehen als weitere Binarismen und Oppositionen in ungewöhnliche Sichtweisen und Begriffskonstellationen umzuwandeln.
In ihren installativen Arbeiten verwebt Mayer visuelle Texturen und Oberflächen mit ortsspezifischen räumlichen und historischen Zusammenhängen unter genderpolitischen Gesichtspunkten; Schlüters entwickelt zumeist Videoinstallationen aus gefundenem Material, an dem sie vor allem die Relation zwischen geschehen, sehen und wahrnehmen und dem Herstellungsprozess von Bildern interessiert. Nun haben die beiden Künstlerinnen gemeinsam ein Projekt umgesetzt, ohne ihre jeweilige Autorschaft getrennt zu markieren. Ein Wir an den Anfang zu setzen, ist bereits wesentlicher Teil des Ganzen. Dieses Ganze ist ein Vielgestaltiges und vor allem Multiperspektivisches, von hoher Stringenz wie ebenso assoziativ zirkulierend; in der Hauptsache jedoch zählen dazu eine großräumige, begehbare Installation, das Soundstück Trigger Layered Soundscape, eine Animation der Kleinschen Flasche als Hologramm, sowie die im Außenraum gehissten Demifluid- bzw. Demiflux-Fahnen, deren Farbstreifenanordnung präzise (Nicht-)Kategorisierungen nichtbinärer Geschlechtsidentitäten visualisieren.
Am besten, die Besucher*in lässt sich von Anfang an von Trigger Layered Soundscape (26’) aus den Kopfhörern durch den Raum begleiten; sie hört dann räumlich. Stimmen und Geräusche ‚stehen’ nicht diffus im Raum, sie orientieren die Hörerin und machen aus dem Raum eine vielfältige Umgebung: man hört beispielsweise eine Stimme aus großer Nähe, zunächst auf dem einen, dann auf dem anderen Ohr – eine weibliche Person scheint um dich herumgegangen zu sein; ein Zug fährt vorbei – die Kunsthalle liegt in der Nähe des Bahnhofs. Aber fährt da gerade einer? Und wer knistert, pustet oder bedient eine Tastatur? Die Dissoziation von visuellem und akustischem Raum hat eine unheimliche Seite, wenn innen, ‚im Kopf’, ein Außen entsteht. Die traditionelle Opposition der beiden Orte fällt in ein und derselben Sinneswahrnehmung zusammen – vergleichbar den nicht-orientierten Flächen von topologischen Figuren wie jener hier animierten Kleinschen Flasche, in der Innen und Außen ständig ineinander übergehen und nicht kategorial zu trennen sind.
In der Mischung aus binauraler Aufnahmetechnik für räumliches Hören mit bekannten, sogar gewöhnlich erscheinenden Materialien und Formen, die jedoch kräfteabhängige Eigenschaften aufweisen – z.B. kinetischer Sand oder intelligente Knete, welche schwerkraftbedingt zäh fließt, unter einem Hammerschlag jedoch in Stücke zerspringt –, wird deutlich, dass sich das Virtuelle keineswegs im Digitalen erschöpft. Vielmehr geht es um die Realisierung jenes Potenzials, das in den Dingen, der Geschichte oder den Beziehungen bereits vorliegt, aber gesellschaftlich und kulturell zukunftsweisend aktualisiert werden muss. Dafür muss das Mögliche nicht Realität im physischen Sinn werden, sondern hat dieselbe Funktion im Fiktionalen und im symbolischen Register.
Thematisch steht das auf einer Social Media Platform wie Tumblr zirkulierende, subkulturelle Otherkin-Phänomen im Mittelpunkt. Die Mitglieder entwerfen sich als postanthropozentrisch und in fluiden, vornehmlich jedoch intensiven Begehrensversionen. Mayer /Schlüters testen Otherkin jenseits der möglichen Verortung der Community als Ausdruck neoliberaler Selbstflexibilisierung und Hyper-Individualisierung auf den politisch-kritischen Input der Fiktion hin. Denn die fantastischen Verkörperungen und ihre differenten Lüste können als Register von Privilegien und umgekehrt, von Marginalisierungen je bestimmter gesellschaftlicher Subjekte politisch lesbar werden. Otherkin, also etwa die ‚Verwandtschaft mit anderen’ oder auch ‚Anderswesen’, multipliziert Geschlechtsidentität als virtuelle Praxis und spekuliert mit einem visuell-verbalen Koitus mit Dingen, populären oder auch mythologischen Erzählfiguren, mit der Natur: „I’m a green-eyed person, part tree, part mountain, part river, part sun“, flüstert mir eine Protagonistin ins Ohr. Und manche/n kann nichts so scharf machen wie Wissen: „I want an incisive, inquisitive, insightful, irreverent mind. I want someone for whom philosophical discussion is foreplay. I want someone who sometimes makes me go ouch due to their wit and evil sense of humor. I decided all that means that I am sapiosexual,“ lautet ein anderes Otherkin-Profil.
Rastern, mithin Kategorisieren war schon immer eine machtvolle Normalisierungstechnik. Hier nun markiert ein horizontal schwebendes Quadratgitter einen Ort in der Shedhalle. Als abstrakte Ordnungsform auch materielle Struktur, werden die visuellen Elemente in Abhängigkeit von diesem Display gezeigt, über sie gehängt, von ihr abgehängt, unter ihr aufgestellt. Alles ist übrigens in schwarz-weiß gehalten und dadurch ausgesprochen grafisch in der Wirkung. Die Integration von Listen, (animierten) Ikonogrammen und topologischen Figuren wie das Möbiusband erzeugen eine multiple Wissensästhetik. Gezielt erweitern diese Elemente den klassischen Wissensgaranten Text um „[…]¬¬—graphing, charting, mapping, gridding, compiling, designing, composing, figuring, reckoning—that are just as essential as the writing of language.“(1) Der Gesamteindruck ist dennoch eher dunkel, und wir denken möglicherweise an Jack Halberstam, der in Queer Art of Failure schreibt, “darkness becomes a crucial part of a queer aesthetic.“(2)
Die Vielfalt der Ausstellungsweisen korrespondiert mit der Differenziertheit der verwendeten Materialien, voran unterschiedlich gelochte, verschieden schimmernde Stoffe, glatt, rau oder pelzig wirkende Haptiken. Herausgehoben seien drei großdimensionierte plastische Stoffobjekte, raffinierte Faltfiguren in flacher Zylinderform: aus schwarzem Taft, aus schwarzem Tüll und aus hellem Filz. Sie treten ebenso autonom wie narrativ auf. Denn die Assoziation ist sofort die eines sogenannten Mühlstein- oder Elisabethanischen Kragens. Als modisches Accessoire gehörte er zur barocken Mode von bürgerlichen Frauen wie Männern. Mittels seiner aktualisieren Mayer / Schlüters die gleichnamige Hauptfigur aus Virginia Woolfs fantastischem Trans*-Roman Orlando (1928), die mindestens zwei Geschlechter und vier Jahrhunderte erlebt – Orlando als virtuelle Otherkin-Person. Nicht nur wegen ihrer geschlechtsübergreifenden dekorativen Attraktivität, sondern auch wegen ihrer O-Form charakterisiert die Halskrause ‚the non-one’, der / die Nicht-eine. Und als exzentrisches Bekleidungselement signalisiert sie, wie es die Kleidung ist, die das Geschlecht macht: „[…] dass die Kleider uns tragen und nicht etwa wir sie; wir mögen ihnen die Form von Arm oder Brust verleihen, sie aber formen unsere Herzen, unsere Hirne, unsere Zungen nach eigenem Ermessen,“ schreibt Woolf.
Überhaupt ist viel von Löchern die Rede (auch visuell) und von der Kombination von Löchern (holes) und Schwänzen (tails), aber, homonym gehört, möglicherweise auch von Ganzheiten (wholes) und Erzählungen (tales)? ‚Tail’ ist nicht ‚dick’, und vielleicht bleiben die Bälle (‚balls’) in ihrem fetischartigen Latexsack auch einfach Spiel- oder Sportzeug, und doch sexualisiert sich der Text im Hören und angesichts der Objekte und zwar in einer Weise, die sich erst gar nicht mit der Aufteilung der Lebewesen in Mensch, Tier und Pflanze aufhält bzw. Anatomien, Morphologien und Typologien von Geschlechtsorganen untersucht. Solches Sprachspiel schmiegt sich an die fantasy-Sprachordnung der Otherkin-Zugehörigen an, denn auch sie triggern alternative Subjektvorstellungen semantisch. Fließend realisiert Mayers / Schlüters Narration, was Rosi Braidotti in The Posthuman (2013) fordert: „[W]e need to visualize the subject as a transversal entity encompassing the human, our genetic neighbours the animals and the earth as a whole, and to do so within an understandable language.“(3) Eine verständliche Sprache beschränkt sich freilich nicht auf das Verbale, sie findet sich ebenso in bekannten Materialien und Formen. So wandern Kreise oder eben Löcher über Flächen, Stoffstücke und Papiere, um sich in Augen, Nase, Mund und damit in eine Gesichtstopologie zu verwandeln; mit dem Vorteil, sich in ihrer Vielheit der Gesichtserkennung zu entziehen.
Temporär stellt sich in der Ausstellung eine grundsätzlich solidarische Nähe zu den bekennenden Repräsentant*innen der Otherkin-Bewegung ein. Allgemeiner aber geht es um eine feministische Position, von der aus das Subjekt widerständig und weniger gut regierbar konzipiert wird. Dieses Subjekt des Feminismus ist, mit Rosi Braidotti gesprochen, ein prozessuales, das andere des Anderen und nicht länger ‚die Frau’das Subjekt des Feminismus ist, ohne dabei notwendigerweise selbst noch Subjekt sein müssen.(4) – was sich in „time to sync or swim“ über die Hinweise auf Orlando, durch die gehörten und gedruckten Texte oder die händisch durchgespielten Materialmetamorphosen multisensual erfahren und dadurch Geschlechtsidentität gleichsam verflüssigt erscheinen ließ.
Dafür wurde der Eindruck nahezu physisch, wie eng das Imaginäre, das Symbolische und das Reale auch jenseits der Funktion des Spiegelbildes als dem klassischen Modell der Subjektbildung miteinander verknüpft bleiben. Denn an die Stelle der Distanz, die für alles Sehen notwendig ist, setzten die beiden Künstlerinnen ein Interface zwischen Auge, Gehör und Tastsinn: „Touch – You“ lässt sich auf einem Plakat lesen. Und das war es: Diese Ausstellung berührte und forderte intellektuell heraus. Gibt es eine bessere Erkenntnisweise?
© Hanne Loreck
Fußnoten:
(1) John Durham Peters, The Marvelous Clouds. Toward a Philosophy of Elemental Media, Chicago und London: The University of Chicago Press 2015, 203.
(2) Jack Halberstam, The Queer Art of Failure, Durham and London: Duke University Press, 2011, 96.
(3) Rosi Braidotti, The Posthuman, Cambridge, UK: Polity Press, 2013, S. 82.
(4) Rosi Braidotti: „[T]he subject of feminism is not Woman […]. She, in fact, may no longer be a she, but the subject of quite another story: a subject-in-process, a mutant, the other of the Other, a post-Woman embodied subject cast in female morphology who has already undergone an essential metamorphosis.“ Metamorphoses. Towards a Materialist Theory of Becoming, Cambridge, UK: Polity Press, 2002, 11-12.
.
.