memoiré et doublier

für
KUBUS Sparda-Kunstpreis

Kunstmuseum Stuttgart

4. Mai - 22. September 2013

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Materialien:

im Raum:
Teppichboden (Auslegeware)
Verspiegelung der Glasschiebetüren

außerhalb, im Umgang:
Sitzmöbel aus dem Museumsbestand
Visual Essay als QR-Code und Link:

http://katrinmayer.net/memoire/

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Katrin Mayer entwickelt für ihre Installationen ortsspezifische Konzepte, welche die Geschichte oder Beschaffenheit des Ausstellungsortes berücksichtigen und gegen die Fiktion eines neutralen Raumes dessen ständige Verflechtung mit Bedeutungen aufzeigen. Ihre für das Kunstmuseum Stuttgart entwickelte Installation memoiré et doublier geht von einer Recherche zu den historischen und institutionellen Einschreibungen des Kleinen Schlossplatzes aus und befragt vor diesem Hintergrund Erfahrungs-, Reflexions- und Handlungsspielräume der Vergangenheit und Gegenwart.

Der Titel der Ausstellung ist aus den Begriffen ‚Moiré‘ und ‚Doublierware‘ abgeleitet. In Drucktechnik und Stoffproduktion bezeichnen sie einen unvorhergesehenen und meist als fehlerhaft bewerteten Vorgang der Rasterverschiebung und Überlagerung. Im französisierenden Wortspiel ‚memoiré et doublier‘ klingen damit Prozesse an, die für Katrin Mayers künstlerische Praxis wesentlich sind: Die Erinnerung, die durch die Recherche vor Ort hervorgeholt oder überhaupt erst wieder ermöglicht wird (mémoire); das Arbeiten mit Mustern und das Verschieben von Strukturen (moiré); das Wiederaufführen gefundener Materialien (doubler); aber auch das Vergehen, das Fortschreiten von Zeit, welches in ‚oublier‘ angesprochen ist, und sich insbesondere in der Temporalität ihrer ortsspezifischen Arbeiten wiederfindet.

Den Ausgangspunkt für Mayers Recherchen bildet die architektonische Gestaltung des Kleinen Schlossplatzes aus dem Jahr 1968, die bis zum Bau des Kunstmuseums Stuttgart bestand. Ausgeführt in der zeittypischen brutalistischen Betonbauweise, repräsentierte diese einen neuen Typus des öffentlichen Platzes, der sich an modernistischen Gestaltungsutopien orientierte: An die Stelle historisch gewachsener Strukturen trat der Gedanke eines Ensembles, in dem jedes Detail auf eine gestalterische Idee zurückgeht, die den öffentlichen Raum mit den umgebenden Gebäuden zu einer unmittelbaren Einheit verbindet. Der Kleine Schlossplatz durchlief in der Folge eine wechselvolle Geschichte. Geprägt von der Ablehnung der breiten Bevölkerung entstanden diverse unvorhergesehene Nutzungen. Er wurde zu einem innerstädtischen Freiraum für gesellschaftliches Randgeschehen ebenso wie für jugend- und subkulturelle Aneignungen. Eine zeitgeschichtlich signifikante Abfolge von Hippies, Junkies, Obdachlosen, Punks, Skatern bis hin zu Vorläufern heutiger Hipster in den 90er-Jahren besetzte und belebte den Platz bis zu seinem Abriss 2002.

Zur Finissage seiner Ausstellung Platzmal am 10. Oktober 1969 inszenierte der Künstler Otto Herbert Hajek auf dem Kleinen Schlossplatz ein multimediales Happening. Nur für diesen einen Tag bemalte er den Boden mit sogenannten ‚Farbwegen‘, einer Art farbigem Streifen- und Rautenmuster. Dieses Happening sollte den Auftakt bilden für eine Belebung des Platzes, stand aber auch für Hajeks Idee einer künstlerischen Überformung von Stuttgart und sein Anliegen, den Menschen die öffentlichen Räume zurückzugeben und neue Kommunikationsorte zu schaffen. Er sah seine Platzbespielung als „Angebot, das der Erwiderung des Betrachters bedarf, um den Kleinen Schloßplatz PLATZ sein zu lassen.“*

Ausgehend von diesem Ereignis entfaltet Katrin Mayer eine Erzählung, die auf verschiedenen Ebenen diese vorangegangenen Nutzungen des Platzes mit dem heutigen Ausstellungsraum in Verbindung setzt. Ein wichtiger Referenzpunkt ist dabei die Geschichte des Museums als sozialer Aufenthaltsort. Waren die ersten Museen noch, ähnlich wie Parks, frei zugängliche öffentliche Räume, um sich zu treffen, zu kommunizieren, zu flirten, ja sogar um dort zu picknicken, änderte sich dies zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Der zunehmende Fokus auf das einzelne Betrachtersubjekt, seine Bildung und Disziplinierung, spiegelte sich nicht zuletzt in der Sitzmöblierung wieder, welche unkomfortabler gestaltet oder in Vorhallen und Cafés ausgelagert wurde.

memoiré et doublier im Kunstmuseum Stuttgart übersetzt die Farbwege Hajeks in ein Muster aus schwarz-grau-weißer Teppich-Auslegeware unterschiedlicher Qualität und Textur. Der Fokus fällt so zuallererst auf die 400 Quadratmeter Raumfläche, ohne dass eine klassische Display-Situation entsteht oder eine Rezeptionshaltung vorgegeben wird. In ihrer Unbestimmtheit ruft die Fläche Assoziationen zwischen Interieur-Lounge und Parklandschaft hervor. Sie ermöglicht alle Arten einer nicht zielgerichteten oder gelenkten sozialen Aktivität, wie Umherlaufen, Herumsitzen, Liegen, sich Unterhalten, Ausruhen oder Nachdenken. Die Wege des Musters binden diese Raumerfahrung im selben Moment zurück an ein spezifisches historisches Gefüge.

Hajeks künstlerische Haltung war beeinflusst von phänomenologischen Theorien seiner Zeit, in denen es um ein In-Beziehung-Setzen des Körpers zu Elementen im Raum ging. Der Rationalisierung und Entkörperung der Wahrnehmung im traditionell-bürgerlichen Kunstverständnis setzte er eine um leiblich-räumliche Dimensionen erweiterte Praxis entgegen. Katrin Mayers Aktualisierung seiner Bodengestaltung in der vollständig veränderten heutigen Bebauung zielt darauf, das Gegenwärtige im Licht der Utopien der 60er-Jahre zu befragen und den uneingelösten Versprechen der Vergangenheit einen Resonanzraum zu geben.

Durch Verspiegelung der drei automatischen Glasschiebetüren interveniert die Installation in den Übergang zwischen Innen und Außen. Die Türen bieten einerseits eine Reflexionsfläche, in der die Besucherin ihr eigenes Spiegelbild wahrnimmt, eröffnen bei Annäherung aber die Sicht auf den Außenraum. Im dort befindlichen Umgang, einem Bereich zwischen dem fensterlosen Gebäudekern und der Glasfassade, platziert Katrin Mayer ein Sitzmöbel aus dem Museumsbestand. Dieses ist auch außerhalb der Öffnungszeiten nutzbar und erlaubt den Blick auf die stadtplanerische Gegenwart des Kleinen Schlossplatzes.

Ein Visual Essay verdichtet und verwebt temporär ausgeliehene Bildzitate und Textfragmente zu einer visuellen Argumentation und bringt so ausgewählte Recherchematerialien in ein tragbares, virtuelles Format. Der Essay lokalisiert sich außerhalb des Museums in digitaler Form im Netz und kann per QR-Code auf mitgebrachten Smartphones oder Computern zu Hause durchgeblättert werden.

Die Künstlerin und Autorin Christine Lemke hat anhand der Recherchematerialien zum Kleinen Schlossplatz und zu O.H. Hajek in ihrem Textbeitrag "Vor der Mondlandung, nach der Mondlandung" für den Katalog eine Zeitreise zu Hajeks Happening und der jüngeren Geschichte des Kleinen Schlossplatzes unternommen. Sie webt literarisch fiktionalisierende Momente und faktisches Geschehen ineinander und entwirft somit eine Erzählung, die auch als Folie zu einer exemplarischen bundesrepublikanischen Stadtentwicklungsgeschichte gelesen werden kann.

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Martin Beck und Katrin Mayer

*„Kudielka über Hajeks Platzmale“, in: O.H. Hajek, Farbwege 1952–1974, Stuttgart 1974, S. 37.

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Es erscheint ein Katalog zur Ausstellung im Kerber Verlag
Grafik: Studio Taube

mit Texten von
Christine Lemke "Vor der Mondlandung, nach der Mondlandung" und Hanne Loreck "Display"
(siehe Rubrik "Texte" dieser Homepage)

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Fotos © die arge lola, Heiko Karn
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