VISUELLE LEKTÜREN – LEKTÜREN DES VISUELLEN

Hg. von Hanne Loreck und Katrin Mayer

Gestaltung: Flo Gaertner

Band 2 der Schriftenreihe der Hochschule für bildende Künste Hamburg
http://querdurch.hfbk.net/publikationen.html

Materialverlag / Textem Verlag 2009
http://www.textem.de/index.php?id=1743

Lektorat: Bettina Uppenkamp
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Aus dem Vorwort:

Lesen fassen wir wie Sehen als Wahrnehmungsperformanz auf, die das aktuelle Primat des Visuellen zu problematisieren vermag. Bilder sind also weniger Illustrationen oder Dokumente gesellschaftlicher Prozesse, als vielmehr ihre Teilnehmerinnen und (Co)Produzenten. Schließlich geht es nicht länger um festgelegte Methoden und Schemata einer Bildanalyse, sondern um solche Modi des Bilder-Lesens, die ihr Objekt als Bestandteil einer oder mehrerer (Wissens- und ästhetisch-medialer) Kultur(en) begreifen und die die grundsätzliche Unabgeschlossenheit und Nichtobjektivität von Wahrnehmungs- und Deutungsverfahren anerkennen.[…] Die hier zusammengeführten Beiträge unternehmen es, Bilder relational zu sehen und in Bildhandlungen, in Handlungen mit Bildern und Handlungen in Bildern zu übersetzen, um das emanzipatorische Potenzial von Bildern oder auch ihre mögliche Rolle für Demokratisierungsprozesse mit der Kritik an Machterhalt jeder Art in Beziehung zu setzen.
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Inhaltsverzeichnis:

Michaela Melián
A Trip to Eros 433, 2007

Katrin Mayer
Self Self Self Creation

Sandra Schäfer, Elfe Brandenburger
Passing the Rainbow
Staging Gender in Kabul

Mareike Bernien, Kerstin Schroedinger
Es handelt sich hier um eine Verwechslung. Gute Nacht.

Elke Zobl
Für eine kritische Reflexion und intersektionale Perspektive in feministischen Zines

Eske Schlüters
drawing the curtains

Eva Meyer
Orlando oder die Eigengesetzlichkeit des Geschlechts

Hanne Loreck
Metamaskerade: Autobiografie
Madonna und Cindy Sherman

Michaela Ott
Ästhetik der Kriegerin im zeitgenössischen Film

Marie-Luise Angerer
Lektüre im Affekt / Lektüren des Affekts

Andrea Seier
Fernsehen der Mikropolitiken: Televisuelle Formen der Selbstführung

Ulrike Bergermann
MONSTRARE. Zum Ausstellen von Dis/Ability

Claudia Reiche
Zu ähnlich – Neue Klitorisbilder aus Kunst und Wissenschaft

Kerstin Brandes
Irgendwann nimmt man nicht mehr irgendwas (hin) – Exotismus, Elitismus und die Grenzen des Erträglichen
Oder: das kräftige Augenzwinkern der Werbebilder …

Sabine Ritter
Misreading Sarah Baartman

Michaela Wünsch
Auf der Spur...
Materialien zum Detektivischen als Praxis visueller Lektüren in Manhunter und Red Dragon


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REZENSIONEN:

zum gleichnamigen Symposium, 2006 in der HfbK Hamburg
von Tim Stüttgen
http://www.thing-hamburg.de/index.php?id=609
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zum Buch:
Johanna Schaffer
Zeigen, verletzen, queere Bewegungen
in: malmoe
Printausgabe 50 und malmoe on the web

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Elena Zanichelli, „Rezension zu Visuelle Lektüren\Lektüren des Visuellen"
in: FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Heft 49, Juni 2010, S. 88-90

VL: Wie ein Logo stechen die Großbuchstaben auf dem Cover aus zwei veilchenblauen diagonalen Streifen hervor – auf der Rückseite, komplementär: LV. Bereits der Blick auf den Buchumschlag verrät, dass hier die Relationen zwischen Textuellem und Visuellem veranschaulicht werden sollen.

Der Band geht aus dem gleichnamigen Symposium hervor, das hochschulübergreifend durch das Graduiertenkolleg „Dekonstruktion und Gestaltung: Gender“ an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg Ende 2006 initiiert wurde. Konzipiert als eine Auswahl der Vorträge in Kombination mit künstlerischen Beiträgen und ergänzenden Texten, zeichnet VL\LV die sich derzeit akkumulierende Beschäftigung mit visueller Kultur nach und legt zugleich die Werkzeuge der eigenen Untersuchung offen. Die Einleitung der Herausgeberinnen fasst zunächst einige Diskursetappen seit dem Pictorial Turn zusammen, die den Themen- und Problemkomplex Bild/Visualität & Text/Verbalität begleiten. Verfolgt werden hier jene wissenschaftspolitischen Debatten, die dies- und jenseits des Atlantiks das „Bild“ zum neuen „kulturellen Leitparadigma“ werden ließen, um es schließlich als Lemma für eine neue Reihe von transuniversitären Sonderforschungsbereichen und Exzellenzzentren emporzusteigen zu lassen. Entgegen einem anthropologischen Verständnis vom Bild spürt der Band der nachhaltigen Produktivität von repräsentationskritischen Differenztheorien nach und entgeht somit sowohl der Tendenz zum Universaldenken als auch dem Versuch, zu einer Ontologisierung des eigenen Forschungsobjekts zu gelangen, wie sie etwa mit der Frage „Was ist ein Bild?“ (Gottfried Boehm) beschworen wurde.

Stattdessen betonen die Herausgeberinnen ihre Auffassung vom Lesen wie Sehen als Wahrnehmungsperformanz, die den Vorrang des Visuellen insofern zu problematisieren vermöge, als dass dadurch Bilder selber als Teilnehmer und (Co)Produzenten gesellschaftlicher Prozesse verstanden werden. Hierbei werden Modi des Bilder-Lesens vorgeschlagen, die „ihr Objekt als Bestandteil einer oder mehrerer (Wissens- und ästhetisch-medialer) Kultur(en) begreifen“. Wie lässt sich nun dieses Programm aus den ausgewählten Beiträgen des Bandes ablesen?

Für Symposien aufbereitende Publikationen eher unüblich sind zunächst einmal die visuellen Beiträge, die die LeserInnen zu einem eingehenden Durchblättern animieren. Visuell verhandelt werden hier Grenzen und Reibungen zwischen Repräsentation und Alltagserfahrung. Als assoziative Zusammensetzung von Bildern heterogener Herkunft entwickelt sich etwa Katrin Mayers Beitrag Self Self Self Creation. Entlehnt ist der Titel dem gleichnamigen Buch von Dr. George Weinberg, einem Psychologen und Psychotherapeuten, der 1978 zur eigenen Konstruktion des Selbst aufrief. Das beschwörungsvolle Cover von Weinbergs Bestseller ist eingebettet in Mayers Bildkonstellation, die es mit einer Folge historischer Aufnahmen u.a. zur Beinbemalung mit Kaffeeersatz (in Ermangelung von Nylonstrumpfhosen) und Bildern einer eigenen Performance kombiniert und bricht. Im Beitrag drawing the curtains spannt die Künstlerin Eske Schlüters einen Bogen des Zeigens und Verbergens. Er reicht von filmischer Rahmung (Kadrierung) über borromäische Knoten als Anordnung von nicht abschließbaren Ringen – die Lacans Veranschaulichung der Trias von Realem, Symbolischem und Imaginärem in Erinnerung ruft – bis hin zur filmischen Darstellung des als Frau geborenen Jazzmusikers Billy Tipton (in The Invisible Man, 1933).

In Mareike Berniens und Kerstin Schroedingers Es handelt sich um eine Verwechslung. Gute Nacht steht der Text im Vordergrund: zweispaltig auf Linienblatt gefasst, suggeriert er insofern aber zugleich eine visuelle Lektüre, als dass er, wie in einem Drehbuch, Dialoge mit Kameraanweisungen kombiniert. Auf dieser Weise veranlasst er, den eigenen Film im Kopf zu drehen. Mit Passing the Rainbow war Sandra Schäfer und Elfe Brandenburger 2008 ein Film gelungen, der über Handlungsfähigkeit von Frauen in Kabul nach dem Talibanregime redet und dabei zugleich sein eigenes Entstehen reflektiert. Auf diesen doppelten Sachverhalt verweist auch der schöne Untertitel Staging Gender in Kabul. Gewährt werden Einblicke sowohl in die sich bei den Dreharbeiten entwickelnden zwischenmenschlichen Beziehungen als auch in die sukzessive Teilhabe afghanischer Frauen am öffentlichen Leben. Die Bild- und Textfolge bietet einen Blick hinter die Kulissen und gibt z.B. Auskunft darüber, mit welchen filmstilistischen Mitteln Szenen verfremdet wurden, um die Identität eines im Film mitspielenden Mädchens zu verbergen. Spürbar wird v.a. beim Reenactment einer Demonstration, wie die Grenzen zwischen Rolle und eigenem Leben verwischen, zumal die Schauspielerinnen/Bewohnerinnen oft in den eigenen Wohn- und Arbeitsorten Kabuls agierend gefilmt wurden. Gerade durch solche „entangled histories“ bietet dieser Beitrag einen überzeugenden Gegenentwurf zur Praxis des „Othering“, der Festschreibung des Anderen als identitätsverstärkende Differenz zum Eigenen.

Die vielschichtige Einbettung vorhandener Bilder in neue Konstellationen im Band VL\LV verdeutlicht, wie die Bildpräsentation – Layout inklusive – Bedeutung produziert bzw. eine signifikante aber potentiell unabgeschlossene Lesart konstituiert. Die ausführlichen Bildnachweise bzw. Textfolgen, die die visuellen Beiträge begleiten und diese explizit einem kulturellen, technisch-medialen bzw. sozialpolitischen Diskurs zuordnen, eröffnen weitere Deutungsebenen.

Ganz im Sinne des im Titel enthaltenen Chiasmus gewinnt die Publikation an vergleichenden Lesarten, wenn durch die Textbeiträge in den Blick genommen wird, auf welcher Weise Bildpraktiken an gesellschaftlichen Lesarten teilhaben. Nicht unähnlich den Visual Culture Studies untersuchen viele kultur- und medienwissenschaftlich orientierten Beiträge Modi der Bildlektüre: in Werbung (Kerstin Brandes), Literatur (Eva Meyer), Fernsehen (Andrea Seier, Ulrike Bergermann) sowie im Bereich Film (Michaela Ott, Michaela Wünsch).

In Bezug auf Lifestyle-TV-Formate bezeichnet die Medienwissenschaftlerin Andrea Seier etwa televisuelle Formen der Selbstführung als „Fernsehen der Mikropolitiken“, womit sie die These eines wechselseitigen Konstitutionsverhältnisses von Selbst- und Medientechnologien untermauert. Diese These ist reizvoll, zumal sich Seier hiermit gegen die (auf einem repressiven Machtmodell basierende) These einer Invasion der Medien in die Privaträume von ZuschauerInnen richtet – und so auch gegen die medienwissenschaftlich vertretene Version einer Entgrenzung von Öffentlichkeit und Privatheit.

Kerstin Brandes Beitrag beschäftigt sich mit der 2005 gestarteten Hörzu-Anzeigenkampagne Irgendwann nimmt man nicht irgendwas, deren Untertitel lautete: „Machen Sie keine Kompromisse, auch nicht am Kiosk“. Die von vielen als rassistisch bzw. sexistisch wahrgenommene Kampagne löste eine heftige Protestaktion aus. Insbesondere das Bild, auf dem ein weißer Mann in Manager-Anzug eine dunkelhäutige Frau in Sari-Seidenkleid samt Halsschmuck und Unterlippenplatte im Arm hält, sorgte für Ärger. Brandes erörtert, wie prekär Grenzen sind, die „zwischen dem Aufmerksamkeitsauftrag von Werbung und der Wahrung eines ethisch Vertretbaren sowie zwischen Regimen normalisierender Bedeutungsproduktion und den Bedingungen ihrer Kritik und Subversion verlaufen“.

Es sind diese Ambivalenzen, auf die bereits Graham Huggan mit dem Terminus der „global alterity industry“ hingewiesen hatte. Sie liegen darin begründet, dass postkoloniale Konzepte wie Hybridität, Subalternität und kulturelle Differenz konsumgängig geworden sind, und eben auch Werbe- und Marketingabteilungen von ihnen profitieren. Als ideales Pendant zu Brandes Beitrag bietet sich sodann der Text der Sozialwirtin und Kriminologin Sabine Ritter Misreading Sarah Baartman an. Hier werden historische Bildpraktiken als Missdeutungen der sog. Hottentottenvenus, die seit Ende des 18. Jh. als Projektionsfläche sexistischer Lust und rassistischer Neugier diente, rezeptionsästhetisch verfolgt.

Einen lebendigen Eindruck aus der Welt alternativer feministischer Magazine bietet Elke Zobl in ihrem vielstimmigen Bericht über „Zines“. Unbürokratischer als andere Publikationsformen erlauben die selbstständig produzierten Grrrl- bzw. Fem Zines kritische Perspektiven, die ‚sie zu „‚messy’ Orten des spielerischen und selbstermächtigenden Ausprobierens“ an der Grenze zwischen Repräsentation und Realem machen.

Anhand der Begriffe „Auto&Biografie“ (Renate Berger) und Geschwisterbeziehung (Juliet Mitchell) behandelt Hanne Loreck die (a)symmetrische Beziehung zwischen der Popikone Madonna und der Kunstikone Cindy Sherman. Loreck betrachtet autobiografisch gefärbte Erzählmomente in der Vita beider Frauen(figuren), und zwar ausgehend von deren Kindheit im Amerika der Eisenhower-Ära. Sie nimmt eine explizite Lektüre des Visuellen vor, wenn sie ein Foto der beiden „peers“ analysiert, das Madonna und Sherman im MoMA anlässlich Shermans Ausstellung der kompletten Untitled Film Stills im Jahre 1997 zeigt. Dieses Foto ist brisant: Die Ausstellung Shermans war erst durch eine hohe Spende Madonnas ermöglicht worden. Die Betrachtung der Beziehung der beiden im Horizont einer Schwesternschaft (sisterhood) oder „Wahlverwandtschaft“ ermöglicht, sie als zwischen „Mimesis, Zuneigung, Aneignung und Rivalität“ schwankend zu denken. Das Spiel der Wiederholungen und Variationen im Bilderset der gegenseitigen An- und Enteignung wird – aus dem für die Autobiografie als Maskenspiel typischen „Geben und Nehmen von Gesichtern“ (Paul de Man) – bei Sherman und Madonna geradewegs zu einer „Metamaskerade“ (Loreck), die sich zwischen Kanon und Fiktion bewegt.

Der Beitrag der Kommunikationswissenschaftlerin Marie-Luise Angerer zählt – trotz seiner komplexen psychoanalytischen, neurowissenschaftlichen und philosophischen Bezüge – aufgrund seiner diagnostischen Schärfe zu den besonders aufschlussreichen Lektüren dieses Bandes. Dokumentiert wird das zunehmende Interesse an einer Lektüre von Affekten und Emotionen z.B. in der Begegnung mit Videoinstallationen. Begriffen wird dieses Interesse nicht nur als modischer Trend, sondern als Symptom für eine Neuorientierung im Denken des Humanen, das – weit über das (kultur-/medien-)theoretische Interesse am Affekt hinaus – von einer Ausweitung der Kampfzone des Manipulierbaren des Körpers zeuge, an der, so Angerer, die Neurobiologie und plastische Chirurgie zusammen mit der Kognitionspsychologie arbeiten. Der Körper des optimierten Menschen soll über seine Affekte nachhaltig gesteuert werden. Es ist nur verständlich, dass Angerer diese neue Begeisterung für das Affektive mehr als skeptisch gegenübersteht.

Das große Themenspektrum der medien- und kulturkritischen Beiträge ist eine der Stärken des vorliegenden Bandes, auch wenn bisweilen deren für Tagungsbände gewohnte Disparatheit den LeserInnen Einiges abverlangt. Dennoch eröffnet die Anthologie auch visuell eine Vielzahl von anregenden Bezügen und zeigt exemplarisch, wie Wahrnehmung im Grenzbereich zwischen Bildproduktion und visueller Kultur durch technische Medien, Apparate und symbolische Ordnungen modelliert wird. Als Diskursformation begriffen, repräsentieren Bilder also immer mehr als nur sich selbst. Entgegen dem Gemeinplatz, Bilder würden mehr als Tausend Worte sagen, profitieren repräsentations- und herrschaftskritische Bildanalysen nach wie vor von semiotisch bzw. linguistisch geprägten Ansätzen. Erwähnenswert ist daher die Konsequenz, mit der der Band durchgängig das Feld kultureller Differenzproduktion – u.a. durch eine genderspezifische Perspektive – hervortreten lässt, was in der deutschsprachigen Bild(kultur)wissenschaft leider oft zu kurz kommt.

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